Ich habe lange überlegt, ob ich meinen Unfall im Jahresbericht erwähnen soll, finden sich hier doch für gewöhnlich Berichte über schöne und erfolgreiche Touren unserer Sektionsmitglieder.
Aber ich denke, das Scheitern und Verunglücken gehört genauso dazu und wenn man dann das Ganze noch wie durch ein Wunder überlebt hat, gibt es doch etwas zu erzählen, was vielleicht den einen oder anderen interessiert.
Bis zum 19.06.2023 war ich über 50 Jahre, ziemlich ernsthaft kletternd, unfallfrei unterwegs. Im Elbsandstein kletternd groß geworden, hatte ich gelernt eher defensiv und mit viel Respekt und Demut mich den Felsen und Bergen zu nähern. Stürzen oder sich aufs Glück verlassen waren keine Optionen. Dass ich einmal in eine Situation kommen werde, in der mir handlungsunfähig nur noch ein Wunder hilft, konnte und wollte ich mir nicht vorstellen.
Bei meiner Recherche im Internet hatte ich mich nur auf die Infos zur Route und die Bilder dieses spektakulären Grates konzentriert. Hätte ich die Stichworte „Unfall/Absturz“ in der Suchmaschine angehängt, wären mir die recht häufigen Abstürze der letzten Jahre aufgefallen, zumal die keiner überlebt hat. Hätte mich das von meinem Vorhaben abgebracht – ich denke nicht – passieren die Unfälle doch meist den Anderen.
Um 4 Uhr in der Früh startete unsere Gruppe von der Hintergrathütte zur Überschreitung des Ortlers über den gleichnamigen Grat. Ziel war die Payerhütte. Die Bedingungen waren gut. Der Neuschnee hatte sich gesetzt und eine Spur von Gruppen der letzten beiden Tage machte ein zügiges Vorankommen möglich. Unsere Gruppe, bestehend aus fünf TeilnehmerInnen und mir als Tourenleiter, war allein unterwegs und genoss die Ruhe und die tolle Morgenstimmung. Viele Fotos wurden gemacht und im abwechslungsreichen Gelände konnte ich mich von der Verfassung und vor allem aber von den Fähigkeiten der Leute im Steigeisengehen überzeugen. Wir erreichten problemlos das erste Eisfeld und danach ging es steiler und felsdurchsetzter hinauf Richtung Signalkopf. Der zuerst breite Hang lief nun auf einen Firngrat zu. Von rechts zog eine steile Fels- und Schneerinne ebenfalls zum Grat hinauf. Ich war beeindruckt, zumal sich darin eine einzelne Aufstiegsspur verlor.
Wir gingen in der getretenen Spur der Vorgänger, zwei Leute unmittelbar vor mir. Nach mir folgten die restlichen drei TeilnehmerInnen. Am Beginn des Grates legte sich das Gelände etwas zurück, Gelegenheit zu verweilen und mich zu orientieren, zumal die ersten Wolken reinzogen. Der Signalkopf schaute in 20 m Entfernung schemenhaft heraus. Ich stand entspannt am Übergang der heraufziehenden Rinne zum Grat als mein talwärtiger Fuß durch den Schnee brach, ich das Gleichgewicht verlor und rückwärts in die Rinne fiel. Kopf voraus, auf dem Rücken liegend, die Stöcke in der Hand. Mit weit aufgerissenen Augen, ein lautes Sch…ße rufend und wild mit den Armen rudernd, segelte ich an meiner Frau und zwei weiteren Teilnehmern vorbei, wobei sie mich schnell, nach einem Sturz über einen Steilabbruch, aus den Augen verloren.
Noch vor dem ersten Abbruch, als ich nur den Himmel und die immer schneller vorbeirasenden Felsen sah, war mein Gedanke, ganz ohne Panik: „Das war‘s jetzt.“ Hatte ich doch vor Jahren einen Bergkameraden auf genau die gleiche Art, aber in viel sanfteren Gelände verloren. Es musste ja nur, wie bei ihm damals, ein Hindernis im Wege sein – Genickbruch.
Dementsprechend verkrampft erwartete ich nach jedem Abheben und Aufschlagen dass es Nacht wird. Ich muss dann tatsächlich kurz das Bewusstsein verloren und mich mehrmals überschlagen haben, denn an die Fleischwunden im Gesicht und an den Beinen habe ich keine Erinnerung. Erst mit einem harten Aufschlag und dem Schmerz des dabei brechenden Brustbeins war ich wieder da und registrierte, dass sich die Fahrt verlangsamte. Ich konnte mich steif machen, die Arme ausbreiten und kam schließlich zum Halten.
Ich saß aufrecht auf feinem Gesteinssplitt im Steilgelände, das rechte Bein unmittelbar über eine Felskante unter mir hängend.
Totale Ruhe, keine Schmerzen, Sonne, warm, aber bei der leichtesten Bewegung rutsche ich auf den Abgrund zu. Nicht bewegen. „Wenn jetzt ein Schneerutsch von hinten kommt – hoffentlich suchen mich die anderen nicht in der Rinne und treten Schnee los“ sind meine ersten Gedanken. Und da kommt auch schon ein kleiner Schneerutsch von oben. Später erfahre ich, dass drei meiner Leute meiner Blutspur folgen wollten, um nachzusehen.
Während das rechte Auge schnell zu schwillt und ich durch einen roten Nebel schaue, wird mir meine Situation richtig bewusst. Ich muss von der Kante weg, hinter ihr geht es 30 m senkrecht im Fels runter. Ich ziehe das über die Kante hängende rechte Bein hoch und will mich mit dem Fuß wegschieben. Aber der Anblick des Fußes und der einsetzende Schmerz lassen mich innehalten.
Jetzt erst denke ich an die anderen, vor allem meine Frau. Sie muss ja von meinem Tod ausgehen, zumindest würde ich das an ihrer Stelle. Während ich hier ziemlich ruhig und entspannt auf den Heli warte, herrscht 300 m weiter oben bestimmt Ungewissheit und/oder Schock. Ich kann aber kein Lebenszeichen absetzen. Erst eine halbe Stunde später, als ich nicht irgendwie baumelnd, sondern aufrecht sitzend mit der Winde aus der Rinne gezogen werde, haben sie Gewissheit, dass ich noch lebe.
Eine halbe Stunde kann lang sein, aber nicht, wenn man in der Sonne sitzt und von seiner baldigen Rettung ausgeht. Ich habe überlebt und jetzt kann eigentlich nichts mehr passieren. Ich bin ganz ruhig, keine Gedanken im Kopf, nur das angespannte Lauschen auf Hubschraubergeräusche. Dann höre ich ihn weit unten im Tal, er verstummt, jetzt startet er wieder, kommt hoch, knallgelb, mit Winde. Er fliegt in Sichtweite zum ersten Schneefeld. Landung, kurze Kontaktaufnahme mit drei meiner Leute, dabei Information der Besatzung zur Suchrichtung.
Davon bekomme ich nichts mit, da es außerhalb meines Sichtfeldes liegt.
Jetzt kommt der Heli um die Ecke, was für ein Anblick, auf gleicher Höhe mit dem Cockpit, Gänsehaut. Ich mache auf meine prekäre Sitzposition aufmerksam. Der Downwash macht mir Sorgen. Der Heli entfernt sich etwas und steigt auf. Gleichzeitig hängt sich ein Bergretter an die Winde und wird ca. 30 m abgelassen. Der Retter kommt vom Abgrund auf mich zu, findet im steilen Gelände aber keinen Halt und klingt sich vor mir hängend in meinen Gurt. Die Winde zieht an, meine Beinschlaufen halten (hätten ja genauso gerissen sein können, wie mein Rucksackgurt) und schon hängen wir im Freien.
Jetzt wird’s ungemütlich. Starker Abwind lässt mich frieren und wir drehen uns um die eigene Achse. Ein kurzer Blick zurück zur Rinne. Mein Gott, wie ausgesetzt. Oben angekommen, greifen mich paar Hände von hinten und ziehen mich ins Innere. Ich falle auf den Rücken. Kurz darauf lässt sich der Retter ebenfalls nach hinten und auf mich fallen. Schlagartig werde ich daran erinnert, welches das kaputte Sprunggelenk ist.
Unten auf einer Wiese, bei Blockhütten empfängt mich die Ärztin und erlöst mich von meinen jetzt einsetzenden Schmerzen. Vakuummatratze, Halskrause und Sauerstoffmaske machen mich transportfähig. Die anderen TeilnehmerInnen werden heruntergeflogen. Kurzer Kontakt zu meiner Frau. Überführung mit dem Heli ins Landeskrankenhaus in Bozen.
Ja, es gibt Wunder. Schon die ersten Worte der Helibesatzung „Junge, da hattest Du aber viele Schutzengel“ führten mir diese Tatsache vor Augen.
Dass die ganze Situation nicht außer Kontrolle geriet, verdanke ich einer überaus professionell agierenden Truppe, die nicht die Nerven verlor. Großes Lob !
Ein besonderer Dank gilt meiner Frau, die mit kühlem Kopf und sehr besonnen die Rettung organisierte, wobei sich die App „SOS EU ALP“ bewährt hat.
Einzig die Beichte meiner Frau, dass ihr erster Gedanke, als ich an ihr vorbeiflog, war, „Jetzt muss ich das Haus verkaufen“ ließ mich kurz aufhorchen, aber die Tatsache, dass sie Schwäbin ist, erklärt alles. Heißt es doch im Schwabenländle, „Liebe vergeht, Hektar besteht“.
Leitung und Bericht: Gerald Franz